Narzisse und Goldammer

Eine gelbe Emberiza

sang im Urlaub auf Ibiza

jeden Tag im weißen Flieder

ihre monotonen Lieder.

Unterm Strauch den Osterglocken

war kein Beifall zu entlocken.

Schließlich hörte man nach Tagen

eine der Narzissen sagen:

„Singen kann ich zwar nicht selber,

dafür leuchte ich viel gelber!“

Darauf ließ die Ammer allen

was auf ihre Köpfe fallen

und fuhr in den Folgejahren

nie mehr auf die Balearen.

Gedicht zum Vogel des Jahres 2015

Ihr Feinde mein, ich will zunächst nicht fluchen…

Und scheinbar ist mein erster Zorn vorbei.

Doch geb ich euch aus meinem Blick nicht frei,

um irgendwann mir einen auszusuchen:

Er wird den scharfen Krallen nicht entgehn.

So plötzlich und auf schonungslose Weise

zieht gierig auch der Habicht seine Kreise,

die Puten und die Gänse auszuspähn.

 Alexander Puschkin (1825): Приятелям

(Nachdichtung aus dem Russischen von Manfred Lieser)

 

Sergej Jessenin (1910)

Der Winter heult und ruft juhu,

singt in den Schlaf und wiegt dazu

den flaumbedeckten Wald.

Und ringsumher in tiefem Gram

verziehen sich auf ferner Bahn

die grauen Wolken bald.

 

Der Schneesturm zügelt seinen Flug,

legt auf den Hof ein seidnes Tuch,

und bittre Kälte klirrt.

Die Spatzen, die sonst so vergnügt,

sind an das Fenster angeschmiegt,

wie Kinder, die verirrt.

 

Es frieren sehr die Vögelein,

die hungrig sind und müd und klein,

zusammenrückend fest.

Indes der Schneesturm wütend brüllt,

die Fensterläden schlägt wie wild

und immer stärker bläst.

 

Nun schlummern meine Vöglein sacht

in dieser Schneegestöbernacht

am Fenster, das verschneit,

und träumend sehn sie wunderbar,

im Sonnenlächeln hell und klar,

die schöne Frühlingszeit.

 

(Nachdichtung aus dem Russischen von Manfred Lieser.)