Frederik, der Auerhahn

FrederikIch war an der Vogelwarte Radolfzell unter Leitung von Prof. Berthold mit ernährungsphysiologischen Untersuchungen am Auerhuhn betraut. Wir wollten herausfinden, welche Koniferennadeln als Winternahrung für Auerhühner am besten geeignet sind, eine Frage, die für die Erhaltung dieser Vogelart in Mitteleuropa von Bedeutung ist. Die Ergebnisse können in folgender Arbeit nachgelesen werden: Lieser, M., Töpfer, T., Schroth, K.E. & Berthold, P. (2006): Energetischer Wert von Koniferennadeln als Winternahrung für Auerhühner (Tetrao urogallus). – Ökol. Vögel 28 (1): 1-29.
Für die Fütterungsversuche hielten wir bis zu einem Dutzend Auerhühner gleichzeitig in den Volieren des Institutes. Die erwachsenen Hähne hatten alle Namen, ich kann mich an zwei gut erinnern, an Max und Frederik. Auerhähne, auch vom Menschen aufgezogene, sind in der Balzzeit von März bis Mai sehr aggressiv anderen Hähnen gegenüber. Es kommt regelmäßig zu Schnabelkämpfen am Gitter benachbarter Volieren, wobei die kräftigen und scharfkantigen Schnäbel gelegentlich den Volierendraht durchknipsen. Die Aggressivität richtet sich auch gegen Menschen. Wenn jemand das Abteil eines Hahnes betritt, greift dieser sofort an, indem er mit gefächertem Schwanz und vorgewölbter Brust „heranrollt“, sich mit dem Schnabel im Hosenbein verbeißt und mit beiden Flügeln gleichzeitig zuschlägt. Diese peitschenartigen Hiebe können auf dem Schienbein empfindlich schmerzen. Eine Tierpflegerin vom Institut traute sich nur mit Begleitschutz zu den Hähnen oder lockte diese vorübergehend in ein Leerabteil.
Max war der aggressivste Hahn, den wir hatten. Ich zog immer Gummistiefel an, wenn ich zu ihm in die Voliere musste, um seinen Schlägen die Wirkung zu nehmen. Griff er an, setzte ich ihm einen Fuß auf den Rücken, drückte ihn behutsam zu Boden, packte mit einer Hand beide Läufe und hob ihn hoch, die Flügel an seinen Körper pressend. Auf diese Weise fixiert, gab er auf, mit dem Schnabel wehrte er sich nicht. Warf ich ihn in die Voliere zurück, machte er augenblicklich kehrt und griff wieder an. Das erinnerte mich sehr an meine Arbeit mit zahmen Rehböcken im Gehege der Uni Freiburg einige Jahre zuvor.
Auch Frederik zeigte sich territorial und angriffslustig, differenzierte allerdings zwischen den Menschen, mit denen er zu tun hatte. Während er alle anderen angriff, war ich die einzige Person, der er sich zwar mit Imponiergehabe und Balzgesang bis auf Körperkontakt näherte, die er aber nicht biss und mit den Flügeln schlug. Als ich mir seiner Sympathie sicher war, wagte ich es, ihn anzufassen; ich kraulte ihn mit dem Finger unter dem Schnabel, strich ihm über Kopf, Hals und Rücken. Irgendwann, als er Anstalten machte, mich zu besteigen, wurde mir der Grund für seine Sympathie klar: Er betrachtete mich als Fortpflanzungspartner, als Henne, eine Erkenntnis, die mein Selbstwertgefühl als Mann erheblich erschütterte, mir aber so manchen Triumph über die verängstigten Mitmenschen bescherte.
So kam Herr Berthold einmal zu mir ins Büro und zeigte mir einen Bluterguss am Unterarm, den ihm Frederik mit dem Schnabel durch den Ärmel der schilffarbenen Outdoorjacke zugefügt hatte. Bei der Aktion war der Hahn in ein anderes Abteil geraten. Wir gingen zur Voliere, um Frederik in sein Quartier zurückzusetzen, Herr Berthold blieb draußen und erwartete gespannt und mit einer Art Vorfreude im Gesicht Frederiks Angriff auf mich. Doch der Hahn war lammfromm, ließ sich streicheln und folgte mir wie ein Hündchen in sein Abteil.
Bei der täglichen Betreuung der Auerhühner bekam ich auch interessante Einblicke in die Nahrungspräferenzen. Wir hängten den Vögeln regelmäßig frische Zweige von Nadel- und Laubbäumen ins Gehege, so von den Haselnussbüschen des Institutsgeländes. Im Frühherbst trugen die Haseln plötzlich Nüsse, noch grün und nicht verholzt. Als Frederik in seinem Zweigbündel diese Nüsse entdeckte, stürzte er darauf los und verschlang eine nach der anderen, nachdem er sie im Schnabel angedrückt hatte. Von da an reichte ich ihm oft Haselnüsse auf der Hand.
Weil es in den Wäldern um Radolfzell keine Heidelbeeren gab, brachte ich unseren Auerhühnern aus dem Schwarzwald einmal eine Wanne voll Heidelbeersträucher mit, gilt diese Ericacee doch als beliebte, sogar essentielle Nahrungspflanze für Auerhühner. Frederik wusste damit nichts anzufangen, nach Tagen warf ich die verdorrten Zweigbündel auf den Komposthaufen. Ähnlich war es bei den anderen Vögeln. So viel zur Bedeutung der Heidelbeere als Grünnahrung.
Als unser Forschungsprojekt auslief, gaben sie die Auerhühner an irgendwelche Züchter ab. Was aus Frederik wurde, habe ich nie erfahren.

Kann man Rauhfußhühner künstlich ansiedeln?

Rauhfußhühner werden wie kaum eine andere Vogelgruppe mit künstlicher Ansiedlung in Verbindung gebracht. Zahlreiche Experten befassen sich seit langer Zeit mit der Zucht zum Zweck der Ausbürgerung. Selbst Laien, die entsprechende Tierhaltungen besuchen, stellen regelmäßig die Frage, ob die Vögel ausgewildert werden. Dies ist aus zwei Gründen verwunderlich:

  • Auerhuhn, Birkhuhn und Haselhuhn sind Arten mit hohen Ansprüchen an ihren Lebensraum. Ihr starker Rückgang und ihr regionales Aussterben in Mitteleuropa sind auf den großflächigen Verlust geeigneter Habitate zurückzuführen (z. B. Bauer & Thielcke 1982, Hölzinger 2001, Lieser 2003), der nicht durch Aussetzung gezüchteter Vögel wettgemacht werden kann.
  • Alle früheren Auswilderungsprojekte mit Rauhfußhühnern in Mitteleuropa (Übersichten bei Niethammer 1963, Klaus 1997, Bergmann et al. 2000) müssen als gescheitert betrachtet werden. Einige jüngere Projekte machen wenig Hoffnung auf die Ansiedlung von nachhaltig lebensfähigen Populationen (z. B. im Harz, Siano 2008, im Bayerischen Wald, Scherzinger 2003).

Diese beiden Feststellungen sollten ausreichen, keine weiteren kostspieligen Ausbürgerungsversuche mit Rauhfußhühnern zu starten. Dennoch werden immer wieder solche Ideen geäußert, z. B. zur Aussetzung von Auerhühnern in den Vogesen oder von Haselhühnern im Schwarzwald, um die autochthonen Restpopulationen zu „stützen“. Dabei wird vergessen, dass momentan günstige Biotope wie die Jungwälder, die nach Sturmwürfen im Nordschwarzwald entstanden, sich sehr rasch wieder zu Fichtenbeständen entwickeln (Handschuh 2004) und daher keine nachhaltige Perspektive bieten. Der Lebensraum in den früheren Auswilderungsgebieten wurde von den Projektbetreibern immer als geeignet eingestuft. Allerdings wies schon Boback (1957) auf die schlechten Biotope in vielen Aussetzungsgebieten hin.

Als Gründe für das Scheitern der Projekte wurden zumeist Prädatoren, Krankheiten, die Technik und der Zeitpunkt der Auswilderung oder Fehlverhalten der Zuchtvögel diskutiert (z. B. Niethammer 1963, Klaus 1997). Erstaunlicherweise schenkte man den ernährungsphysiologischen Fähigkeiten der Tiere bisher wenig Beachtung (Ausnahme z. B. Gremmels 1988). Bei der Eignung der Vögel ist aber zunächst das Vermögen entscheidend, ganzjährig mit natürlicher Nahrung auszukommen. Im Fall des Auerhuhns spielt hierbei die energetische Verwertung von Koniferennadeln im Winter eine Schlüsselrolle. Größe und Effektivität der Blinddärme, die der Vergärung zellulosereicher Nahrung dienen, bestimmen maßgeblich die umsetzbare Energie (Lieser et al. 2005). Gezüchtete Rauhfußhühner haben ein weniger effizientes Verdauungssystem als wilde Artgenossen, was bei diesen Pflanzenfressern von entscheidender Bedeutung für das Überleben ist. So ist es in Deutschland verboten, ein „gezüchtetes oder aufgezogenes Tier einer wildlebenden Art in der freien Natur auszusetzen oder anzusiedeln, das nicht auf die zum Überleben in dem vorgesehenen Lebensraum erforderliche artgemäße Nahrungsaufnahme vorbereitet ist“ (§ 3 TierSchG). Das rasche Verschwinden der vielen ausgesetzten Vögel im Rahmen früherer Projekte ist vermutlich auf die schlechte ernährungsphysiologische Anpassung zurückzuführen (z. B. Auerhühner im Schwarzwald, Schroth 1991, im Sauerland, Spittler 1994, im Odenwald, Sauer 1997, im Harz, Siano 2008, im Bayerischen Wald, Scherzinger 2003; Birkhühner in Oberschwaben, Hölzinger 2001; Haselhühner im Harz, Künne 1991). So waren die im Harz ausgewilderten und telemetrierten Auerhühner, die Siano (2008) frischtot auffand, stark abgemagert. Im Bayerischen Wald kamen viele Vögel nach kurzer Zeit um, einige ließen sich sogar wieder einfangen (Scherzinger 2003). Die von Künne (1991) betreuten Haselhühner nahmen in den Auswilderungsvolieren kaum Naturnahrung auf, wenn sie Körnerfutter zur Verfügung hatten. Auch nach der Freilassung kamen sie immer wieder an die Futterstellen. Dieses Verhalten wird ebenfalls von Auerhühnern aus vielen Projekten berichtet (z. B. Wagner 1990, Wittlinger 1990, Spittler, mdl.). Bei der Aussetzung im Herbst des ersten Lebensjahres, wie zumeist praktiziert, schaffen die Zuchtvögel die rasche Nahrungsumstellung nicht. Zwar konnte nachgewiesen werden, dass ausgewilderte Auer-, Birk- und Haselhühner natürliche Nahrung aufnehmen (Heinemann 1989, Beichle 1988, Körner 1991), doch ist die Energieausbeute zu gering. Die Vögel verhungern vermutlich oder fallen in geschwächtem Zustand sehr rasch Beutegreifern zum Opfer, was auch Liukkonen-Anttila et al. (2000) diskutieren.

Die oft als „Stützung“ von Wildpopulationen deklarierte Auswilderung gezüchteter Rauhfußhühner im ersten Herbst ihres Lebens ist vermutlich keine Stützung gewesen, zumal nie definiert wurde, was mit Stützung gemeint war. Nur wenige Hühner haben bis zu der auf die Freilassung folgenden Brutsaison oder länger überlebt. Und für diese Vögel ist eine Verpaarung mit Wildvögeln und eine erfolgreiche Reproduktion in der Regel nicht belegt (z. B. Scherzinger 2003) oder beschränkt sich auf wenige Fälle (z. B. Sodeikat 1995). Ähnliches gilt für Wiedereinbürgerungsversuche (z. B. Künne 1991, Schroth 1991, Spittler 1994). Die Tatsache, dass Rauhfußhühner als verfrachtete Wildfänge im Aussetzungsgebiet länger überleben (Bergmann et al. 2000), beruht sicher maßgeblich auf der besseren Verdauungsleistung, da die Habitatbedingungen gleich sind wie für Zuchtvögel. Aufgrund der hohen Habitatansprüche und der Schwierigkeit, geeignete Vögel zu beschaffen, sollte man von weiteren Auswilderungsprojekten mit Rauhfußhühnern Abstand nehmen.

Literatur

Bauer, S. & G. Thielcke (1982): Gefährdete Brutvogelarten in der Bundesrepublik Deutschland und im Land Berlin: Bestandsentwicklung, Gefährdungsursachen und Schutzmaßnahmen. Die Vogelwarte 31: 183-391.

Beichle, U. (1988): Raumnutzung, Nahrung und Überlebensdauer ausgewilderter Birkhühner in Schleswig-Holstein. Natur & Landschaft 63: 322-327.

Bergmann, H.H., C. Seiler & S. Klaus (2000): Release projects with grouse ‑ a plea for translocations. In: Tetraonidae at the break of the millennium. Proc. Int. Conf., 24‑26 March 2000, Ceske Budejovice, 33‑42.

Boback, W.A. (1957): Warum misslangen die meisten Wiedereinbürgerungsversuche mit Auerwild? Der Falke 4: 158‑159.

Gremmels, H. (1988): Das Verdauungssystem der Rauhfußhühner – Grundlagen zum Verständnis der Ernährungssituation des auszuwildernden und freilebenden Birkwildes. NNA-Berichte 1/2: 98-102.

Handschuh, M. (2004): Zur Eignung von Jungwäldern auf ehemaligen Sturmwurfflächen im Nordschwarzwald als Lebensraum für das Haselhuhn (Bonasa bonasia) – ein Vergleich mit besiedelten Jungwäldern der südlichen Vogesen. – Orn. Jahresh. Bad.-Württ. 20: 1-97

Heinemann, U. (1989): Zur Winternahrung des Auerhuhns (Tetrao urogallus L.) im Harz. Z. Jagdwiss. 35: 35‑40.

Hölzinger, J. (2001): Birkhuhn Tetrao tetrix Linnaeus, 1758. In: Die Vögel Baden-Württembergs. Bd. 2.2. Ulmer, Stuttgart: 37-54.

Klaus, S. (1997): Flucht in die Zucht. Eine kritische Bilanz der Wiederansiedlung von Auerhühnern. Nationalpark H. 1: 8‑15.

Körner, S. (1991): Nahrungswahl in menschlicher Obhut aufgewachsener Haselhühner (Bonasa bonasia L.) im Wiederansiedlungsgebiet Südharz. Diplomarb. Univ. Osnabrück, 140 S. + Anh.

Künne, H.J. (1991): Zur Ökologie und Habitatnutzung sendermarkierter Haselhühner (Bonasa bonasia) im Südharz. Diplomarb. Univ. Osnabrück, 115 S.

Lieser, M. (2003): Probleme des Artenschutzes im Wirtschaftswald am Beispiel der Rauhfußhühner im Schwarzwald. Natur & Landschaft 78: 10-17.

Lieser, M., Schroth, K.E. & Berthold, P. (2005): Ernährungsphysiologische Aspekte im Zusammenhang mit der Auswilderung von Auerhühnern (Tetrao urogallus). Ornithol. Beob. 102: 97-108

Liukkonen‑Anttila, T., R. Saartoala & R. Hissa (2000): Impact of hand‑rearing on morphology and physiology of the capercaillie (Tetrao urogallus). Comp.  Biochem.  Physiol. 125: 211‑221.

Niethammer, G. (1963): Die Einbürgerung von Säugetieren und Vögeln in Europa ‑ Ergebnisse und Aussichten. Verlag Paul Parey, Hamburg und Berlin, 319 S.

Sauer, G. (1997): Auerwild als Fuchsfraß. Die Pirsch 21: 18‑20.

Scherzinger, W. (2003): Artenschutzprojekt Auerhuhn im Nationalpark Bayerischer Wald von 1985-2000. Nationalpark Bayer. Wald, Wiss. Reihe 15, Grafenau, 130 S.

Schroth, K.-E. (1991): Survival, movements and habitat selection of released capercaillie in the north‑east Black Forest. Ornis Scand. 22: 249‑254.

Siano, R. (2008): Überleben, Raum‑ und Habitatnutzung sowie Ernährung ausgewilderter Auerhühner (Tetrao urogallus L.) im Nationalpark Harz. Diss. TU Dresden, 171 S. + Anh.

Sodeikat, G. (1995): Birkhuhnschutz mit Hilfe des Zielartenkonzepts und durch zusätzliche Auswilderung von Birkhühnern. Naturschutzreport 10: 217-225.

Spittler, H. (1994): Wiedereinbürgerungsversuch mit Auerwild (Tetrao urogallus L.) im Hochsauerland. Z. Jagdwiss. 40: 185-199.

Tierschutzgesetz (TierSchG) i. d. F. vom  25.5.1998 (BGBl. I S. 1105), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.6.2001 (BGBl. I S. 1215).

Wagner, E. (1990): Stützung der Auerwildrestpopulation im Raum Schramberg. Schriftenr. d. Landesforstverw. Baden-Württ. 70: 23-27.

Wittlinger, G. (1990): Stützung der Auerwildrestpopulation im Raum Wildbad. Schriftenr. d. Landesforstverw. Baden‑Württ. 70: 27‑33.

Märchenvogel Auerhuhn

Vieles von dem, was wir heute über das Auerhuhn wissen oder von ihm glauben, haben wir den Weidmännern zu verdanken. „Zweifellos sammelt der Jäger auf der Auerhahnbalz sonderbare Eindrücke. Die Natur des dichten, wilden Waldes, die unvermeidlichen Übernachtungen am Lagerfeuer und der seltsame, urtümliche Vogel, der auf wunderbare Weise viele Jahrtausende auf der Erde überlebt hat, entführen den Jäger in eine unbekannte Märchenwelt“, schrieb Sokolov-Mikitov (1973). Also selbst in der russischen Taiga hat der „Urhahn“ die Gefühle und die Phantasie der Jäger angeregt. Das Geheimnisvolle, das in erster Linie auf der mangelhaften biologischen Bildung der Jäger beruhte, wurde mystifiziert und zu einer nur dem Weidmann gebührenden Erfahrung deklariert. Drei bis heute kursierende Märchen über den Auerhahn sollen hier einmal näher besprochen werden.

Märchen 1: Der alte Raufer

Einer der jagdlichen Mythen ist der vom „alten Raufer“, dem stärksten Hahn am Balzplatz. Diesen gelte es zu erlegen, weil er die Junghähne vertreibe und diese dann die Hennen vom Balzplatz weg, d. h. in fremde Reviere führten. In Wahrheit wollten „Jagdexperten“ nur die Erlegung des besten Trophäenhahnes aus biologischer Sicht rechtfertigen. Wie soll denn über Jahrtausende die Arenabalz dieser Vogelart funktioniert haben, bevor der Mensch das Schwarzpulver erfand? Der lange Zeit praktizierte Abschuss der vitalsten Hähne und die damit verbundenen Störungen der Balz haben im Gegenteil den Auerhuhnpopulationen mancher Gebiete sehr geschadet (Klaus et al. 1986, Lieser & Roth 2001).

Märchen 2: Ameisen als wichtige Kükennahrung

„Die Küken brauchen Ameisen als Nahrung“, war meistens die erste Antwort von Freiburger Forststudenten in der Wildökologieprüfung auf die Frage „Was wissen Sie über das Auerhuhn?“ Dieses Märchen beruht auf einem Scheinzusammenhang. Bei früheren Habitatuntersuchungen stellte man nämlich fest, dass sich Auerhennen mit Küken gern dort aufhalten, wo sich Ameisenburgen befinden und zog den o.g. Schluss, ohne den Verzehr von Ameisen durch Auerhuhnküken beobachtet zu haben. Dieser Irrtum setzte sich hartnäckig in der Literatur fest (z.B. Klaus et al. 1986) und führte dazu, dass in Auerhuhnschutzprojekten unnötigerweise Waldameisen künstlich angesiedelt wurden. Bei unseren Versuchen mit handaufgezogenen Küken im Schwarzwald (Zakrzewski 1993) stellten wir niemals das Aufpicken von Ameisen fest, obwohl diese im Angebot waren. Auf der Hand dargebotene Ameisen wurden ignoriert, andere Insekten wie Raupen oder Fliegen dagegen hastig aufgenommen. Die einzige mir bekannte Arbeit, die den Verzehr von Ameisen durch (ebenfalls handaufgezogene) Auerhuhnküken belegt, ist die von Spidso & Stuen (1988). In den Kröpfen wilder Küken (ebenfalls in Südnorwegen) dominierten dagegen mit knapp 80% Larven anderer Insekten (Kastdalen 1986). Ameisen sind also wahrscheinlich keine essentielle Nahrung für junge Auerhühner.

Märchen 3: Infraschall

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Fehlschlüsse fortpflanzen, ist das Märchen von der Infraschallkommunikation beim Auerhuhn, welches auf der Arbeit von Moss & Lockie (1979) beruht und z. B. von Tschirch (2001) übernommen wurde. Infraschall ist Schall mit Frequenzen <20 Hz, der mit langen Wellen korrespondiert (z.B. 20 Hz mit 17 m, 10 Hz mit 34 m). Zur Erzeugung langer Wellen sind große Resonanzkörper erforderlich, Vokallaute des Kasuars (ca. 50 kg Körpermasse) reichen herab bis 23 Hz (Mack & Jones 2003). Wie soll es da ein solch kleiner Vogel wie der Auerhahn (ca. 5 kg) bis in den Infraschallbereich schaffen? Unsere Messungen mit einem modernen Mikrophon an einem Balzplatz im Schwarzwald ließen denn auch keinerlei Beteiligung von Infraschall an den Stimmäußerungen von Auerhähnen erkennen (Lieser et al. 2005). Und der Infraschall, den Auerhähne bei ihren Flattersprüngen erzeugen, ist vermutlich nur ein physikalisches Nebenprodukt des Flügelschlags und hat keine biologische Bedeutung (Lieser et al. 2006).

Literatur:

Kastdalen, L. (1986): Food selection in capercaillie and black grouse chicks in South-East Norway. – Diss. Univ. Oslo, 68 S.

Klaus, S., Andreev, A.V., Bergmann, H.H., Müller, F., Porkert, J. & Wiesner, J. (1986): Die Auerhühner. – A. Ziemsen Verlag, Wittenberg-Lutherstadt

Lieser, M. & Roth, K. (2001): Auerhuhn (Tetrao urogallus, Linnaeus, 1758) – in: Die Vögel Baden-Württembergs. Bd. 2.2, Ulmer, Stuttgart, 54-77

Lieser, M., Berthold, P., Manley, G.A. (2005): Infrasound in the capercaillie (Tetrao urogallus). J. Ornithol. 146: 395–398

Lieser, M., Berthold, P. & Manley, G.A. (2006): Infrasound in the flutter jumps of the capercaillie (Tetrao urogallus) – apparently a physical by-product. – J. Ornithol. 147: 507-509

Mack, A.L. & Jones, J. (2003): Low-frequency vocalizations by cassowaries (Casuarius spp.). Auk 120: 1062–1068

Moss, R. & Lockie, J. (1979): Infrasonic components in the song of the capercaillie Tetrao urogallus. – Ibis 121: 95-97

Sokolov-Mikitov, I. (1973): Erzählungen eines alten Jägers. Moskau

Spidso, T.K. & Stuen, O.H. (1988): Food selection by capercaillie chicks in southern Norway. – Can. J. Zool. 66: 279-283

Tschirch, W. (2001): Infraschall-Kommunikation bei Vögeln. – Orn. Mitt. 53: 166-171

Zakrzewski, M. (1993): Erfassung der Nahrungsaufnahme von Waldhühnerküken in verschiedenartigen Waldbeständen – eine Methode zur Habitatbewertung? – Dipl.arb. Forstwiss. Fak. Univ. Freiburg, 54 S.

Ist die Klimaerwärmung schuld am Rückgang des Auerhuhns im Schwarzwald?

Es gibt die Klimaerwärmung, ohne Zweifel. Sie ist durch Thermometerablesungen der Meteorologen belegt und bedarf keiner weiteren Beweise. Nur darf sie nicht als Erklärung von Prozessen missbraucht werden, die ganz andere Ursachen haben. So war in einer Rundfunksendung des SWR 1 am 2.11.2014 zu hören, der Auerhuhnbestand im Schwarzwald sei an erster Stelle durch die Klimaerwärmung gefährdet, ohne dass allerdings die Wirkungsweise erklärt wurde. Experten der Landesforstverwaltung Baden-Württemberg erwähnen neuerdings gern bei der Vorstellung des Auerhuhns, diese Art sei an „winterkalte“ Habitate gebunden, um sich für die Erklärung des Bestandesrückganges das Hintertürchen Klimaerwärmung offenzuhalten.

Arten wie Rauhfußkauz, Sperlingskauz und Dreizehenspecht, nach Voous (1960) alle drei sibirisch-kanadische Faunenelemente, haben seit den 1980er Jahren im Schwarzwald im Bestand zugenommen, weil immer mehr Waldbestände in stärkere Dimensionen hineinwachsen und damit Höhlenbäume oder Nahrung (Borkenkäfer beim Dreizehenspecht) zur Verfügung stellen. Der Klimawandel hat die Bestandszunahme dieser an „winterkalte“ Habitate angepassten Arten nicht verhindert. Auf der anderen Seite brauchen wir die Abnahme mancher Arten mit borealer Herkunft auch nicht mit der Klimaerwärmung zu begründen, weil es viel näher liegende und ausreichende Erklärungen gibt. Beispiele sind Haselhuhn (sibirisches F.) und Auerhuhn (paläarktisches F.) im Schwarzwald (Lieser 2003), denen die Forstwirtschaft den Garaus macht(e) und sogar dann machen würde, wenn wir eine Klimaabkühlung hätten. Die Klimaerwärmung ist für die Landesforstverwaltung Baden-Württemberg nun ein willkommenes Thema, um von den waldbaulichen Hausaufgaben bei der Lebensraumsicherung abzulenken. Das Auerhuhn hat durch steigende Holzvorräte, Rückgang der Kiefer und Dichtschluss der dominierenden Fichtenbestände große Teile seines Lebensraumes verloren und wurde nicht etwa durch die Klimaerwärmung über die höchsten Schwarzwaldlagen hinauskatapultiert. „Man müsste den Schwarzwald um einige hundert Meter höher machen können, um dem Auerhuhn einen hinreichend kalten Lebensraum zu bieten“, sagen manche Experten gern bei Tagungen, womit sie regelmäßig ein solidarisches Kopfnicken bei den Zuhörern auslösen. Gerade aber beim Auerhuhn, dessen Abnahme im Schwarzwald seit Jahrzehnten dokumentiert ist (Lieser & Roth 2001), hat man früher oft nasskalte Perioden während der Jungenaufzucht als Rückgangsursache genannt. Da müsste doch die Klimaerwärmung mit trockenen und warmen Sommern wie 2003 recht sein.

Alles in allem sind die bisherigen Diskussionen der Zusammenhänge zwischen Klimaerwärmung und Veränderungen in der heimischen Vogelwelt widersprüchlich. Wir sollten uns davor hüten, vor diesem modernen Thema die Suche nach anderen, vielleicht banaleren und wichtigeren Faktoren zu vernachlässigen und die wahren Verursacher freizusprechen.

Literatur:

Lieser, M. & Roth, K. (2001): Tetrao urogallus (Linnaeus, 1758) – Auerhuhn. In:  Die Vögel Baden-Württembergs. 2.2, Ulmer, Stuttgart: 54-77

Lieser, M. (2003): Probleme des Artenschutzes im Wirtschaftswald am Beispiel der Rauhfußhühner im Schwarzwald. – Natur und Landschaft 78: 10-17

Voous, K.H. (1960): Über die Herkunft der subalpinen Nadelwaldvögel Mitteleuropas. ‑ Ornithol. Beob. 57: 27‑37