Das Tristan da Cunha-Archipel: Inselreich der ornithologischen Rätsel

Das Tristan da Cunha-Archipel – es gibt wohl kaum eine abgelegenere Inselgruppe. Mitten im südlichen Atlantik, mehr als zweitausend Kilometer von den Küsten Südafrikas bzw. Südamerikas entfernt, erhebt sich eine Reihe von Vulkankegeln aus dem Wasser, die sich einst über einem geologischen Hotspot formten. Die zu Ehren des portugiesischen Seefahrers Tristan da Cunha benannte und mit einem Durchmesser von ungefähr 11 Kilometer größte Insel beherbergt trotz aller Widrigkeiten sogar eine menschliche Ansiedlung. Die kleineren Inseln Gough, Nightingale und Inaccessible werden vor allem von Vögeln bewohnt.

Der Name des letztgenannten Eilands („Unzugänglich“) könnte die Abgelegenheit des Archipels auf dem Mittelatlantischen Rücken nicht besser zum Ausdruck bringen. Hier kommt im Übrigen der weltweit kleinste bekannte flugunfähige Vogel vor: die endemische Atlantis-Ralle Atlantisia rogersi.

Hausmäuse auf Abwegen bedrohen Albatrosse

Es verwundert nicht, dass diese geheimnisumwitterten Inseln auch für den Ornithologen, respektive die Ornithologin, einige hochkarätige Rätsel bereithalten. Zu diesen gehörte vor noch nicht gar so langer Zeit der Rückgang des Tristan-Albatrosses Diomedea dabbenena auf der Insel Gough. Die Art kommt ausschlieβlich auf den Inseln Tristan, Gough und Inaccessible vor. Das Schwinden der Albatrosbestände war lange Zeit ein Rätsel – jedenfalls so lange, bis britische und südafrikanische Vogelkundler während eines einjährigen Forschungsaufenthalts auf Gough den schaurigen Grund ausmachten: Hausmäuse (Mus musculus), die wahrscheinlich über englische Walfangschiffe auf die Insel gelangt waren, hatten sich kräftig vermehrt und zudem eine neue Nahrungsquelle erschlossen: sie ernähren sich von den zu Tausenden auf der Insel vorkommenden Albatrosküken. Letztere sitzen über einen Zeitraum von mehreren Monaten in ihren Bodennestern und entwickeln sich langsam. Während ihre Eltern sich weit von der Küste auf Nahrungssuche befinden, fallen die Mäuse über den hilflosen und noch flugunfähigen Vogelnachwuchs her und knabbern an ihm herum. An ihren offenen Wunden gehen die Albatrosküken letztendlich zugrunde. Die Gough-Mäuse, die gegenüber ihren Vorfahren von den Britischen Inseln die bis zu dreifache Körpergröβe erreicht hatten (Inselgigantismus ist bei Säugetieren ein häufiges Phänomen) sind damit zu einer erheblichen Gefahr für die seltenen Brutvögel der Insel geworden.

Gough ist 410 km südöstlich von Tristan gelegen. Beide Inseln sind die Schauplätze eines weiteren Ornithologen-Krimis. Hauptdarstellerin ist die Tristan-Inselralle (Gallinula nesostis). Über ihre Existenz herrschte lange Unklarheit. Die wenigen Beobachtungen von Rallenvögeln auf Tristan da Cunha führten zu sich widersprechenden Hypothesen über die Existenz einer dort vorkommenden endemischen Rallenart. Niederländische Wissenschaftler um Dick Groenenberg von der Universität Leiden brachten mit Hilfe molekular-phylogenetischer Methoden schließlich Licht in das wissenschaftliche Dunkel.

Gibt es die Tristan-Inselralle noch?

Die Tristan-Inselralle Gallinula nesiotis wurde erstmals im Jahr 1861 vom britischen Ornithologen Philip Lutley Sclater  wissenschaftlich beschrieben. Das Typus-Exemplar wurde im Londoner Naturhistorischen Museum deponiert, wo sich noch ein weiterer Balg und ein Skelett befinden. In den folgenden Jahren wurde der Vogel immer seltener beobachtet und galt schließlich als ausgestorben. Dreiβig Jahre später wurde die sehr ähnliche, ebenfalls flugunfähige Rallenart (Gallinula comeri) von der Nachbarinsel Gough beschrieben. Unter Zoologen kamen schließlich Zweifel an der Existenz einer eigenständigen Inselralle auf Tristan auf.

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Briefmarken vom Tristan da Cunha – Archipel sind dazu angetan, die Verwirrung um die Existenz einer endemischen Rallenart auf der Insel Tristan zu vergrößern. Quelle: Groenenberg DSJ, Beintema AJ, Dekker RWRJ, Gittenberger E (2008) Ancient DNA Elucidates the Controversy about the Flightless Island Hens (Gallinula sp.) of Tristan da Cunha. PLoS ONE 3(3): e1835. doi:10.1371/journal.pone.0001835

Die Leidener Wissenschaftler um Dick Groenenberg testeten verschiedene Hypothesen zum Verbleib der Tristan Ralle mit molekularen Methoden. Die alten, „authentischen“ Exemplare der Tristan-Ralle Gallinula nesiotis, deren DNA aus den Londoner Bälgen extrahiert wurde, einerseits und die heute auf Tristan lebenden Rallen andererseits sind demnach genetisch unterschiedlich, während die DNA-Sequenzen der letztgenannten mit der auf Gough vorkommenden Rallenpopulation identisch sind.

Die Wissenschaftler kamen letztendlich zu dem Schluss, dass die endemische Tristan-Ralle wirklich existiert hat und im 19. Jahrhundert ausgestorben ist. Heute auf Tristan vorkommende Rallen stammen von der Insel Gough und sind wahrscheinlich im 20. Jahrhundert durch den Menschen nach Tristan eingeschleppt worden. Die heute auf Gough und Tristan lebenden Rallenvögel stellen folglich ein anderes Taxon dar als die ausgestorbene Tristan-Ralle.

Literatur:

Gassmann, D. (2009): Flugunfähige Tristan-Ralle für ausgestorben erklärt. Naturwissenschaftliche Rundschau 736: 541-543.

Gassmann, D. (2010): Von Riesenratten und Zwergelefanten. ZOÓN Nr. 2/2010: 64-67.

Groenenberg DSJ, Beintema AJ, Dekker RWRJ, Gittenberger E (2008): Ancient DNA Elucidates the Controversy about the Flightless Island Hens (Gallinula sp.) of Tristan da Cunha. PLoS ONE 3(3): e1835. doi:10.1371/journal.pone.0001835.

Beintema, A., & Helyer, P. (1997): Het waterhoentje van Tristan da Cunha. Atlas.
Wanless, R. M., Angel, A., Cuthbert, R. J., Hilton, G. M., & Ryan, P. G. (2007): Can predation by invasive mice drive seabird extinctions?. Biology letters, 3(3), 241-244.

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